Es ist noch gar nicht so lange her, dass in der Trójmiasto (Dreistadt) Gdańsk-Gdynia-Sopot Abrissfahrscheine Alltag waren. Ein Abschnitt für Kinder und sonstige Rabattberechtigte, zwei Abschnitte für Erwachsene, wollten beim Fahrer mit Bargeld erworben und dann entwertet werden. Die Automaten der SKM (S-Bahn ähnlicher Verkehr) nahmen ausschließlich Münzen an.
Irgendwann kamen dann die bekannten HandyTicket-Apps wie MoBILET, SkyCash und Jak Dojadę hinzu, die zunächst nur einen Teil des Barsortiments im Angebot hatten. Für die (interessanten) Tageskarten bspw. für alle lokalen Betriebe und SKM (Bilet metropolitalny wszystkich operatorów) musste man zur SKM an den Schalter am Bahnhof.
Die Zeiten sind vorbei und inzwischen sind auch die Ticketautomaten mit kontaktlosen Kartenlesern ausgestattet, wie das im Rest des Landes seit langem üblich ist.
Im Frühjahr startete der Rollout eines neuen Token basierten Vertriebssystems namens FALA. Fala heißt auf Deutsch „die Welle“, być na fali wiederum „modern sein“. Die entsprechenden Automaten, Apps und das Backend kommen aber nicht nur in der Dreistadt zum Einsatz, sondern gleich in der gesamten Woiwodschaft.
FALA kommt mit einer ganzen Welle von Funktionen und Möglichkeiten, dass selbst mir ob des Schwalls (auch eine Übersetzung für Fala) an Optionen ganz schwindlig geworden ist.
Sichtbarste Zeichen: Die Entwerter an Bord
An Bord aller teilnehmenden Fahrzeuge (alternativ am Bahnsteig) findet man zwei Sorten von Terminals. Den einfachen Leser („Czytnik“) nah den Türen, sowie den mit erweiterten Funktionen ausgestatteten „Falomat“.
Am einfachen Leser kann man mit einer zum System gehörenden kontaktlosen Karte einchecken oder auch mit Debit-/Kreditkarten ein Ticket kontakt- und beleglos kaufen. Hierbei erkennt das System im Hintergrund automatisch, welche Ticketart (Einfache Fahrt ohne Umstieg, 75 Minuten-Ticket) am günstigsten ist und kappt die Kosten auch auf den Preis einer Tageskarte (in dem Fall für Gdynia).
Der Falomat bietet ein paar mehr Optionen und kann so z.B. zusätzliche Fahrscheine verkaufen, Fahrscheine mit QR-Code entwerten, den Kontostand des Benutzerkontos anzeigen oder in manchen Städten auch Checkin/Checkout durchführen und nach gefahrenen Haltestellen abrechnen.
Das Kundenportal
Zum System gehört auch ein Kundenportal mit zwei Stufen der Registrierung. Vollständig registrierte Kunden können bspw. persönliche Rabatte hinterlegen und Rechnungen herunterladen.
Im Portal lässt sich das Kundenkonto über Debit-/Kreditkarte (inkl. Apple Pay/Google Pay) oder BLIK aufladen. Das Prepaid-Guthaben kann dann zum Kauf von Fahrscheinen oder zur Abrechnung dynamischer Reisen (Checkin/Checkout) genutzt werden. Eine vorherige Aufladung ist aber keine Pflicht. Es kann auch direkt per Debit-/Kreditkarte oder BLIK eingezogen werden. Für das dynamische Reisen lässt sich auch eine abweichende Karte zur Bezahlung festlegen.
Für die Zuordnung von Fahrten zum Kundenkonto lassen sich sog. Identifikatoren festlegen. Das ist zum Einen einmal eine Kennung die für die mobile App generiert wurde, kann aber auch ein Token sein, welches für eine zu hinterlegenden Debit- oder Kreditkarte erzeugt wird. Dazu später mehr.
Ticketkauf
Nach Betreten des Fahrzeuges im Stadtverkehr bieten sich nun eine ganze Reihe von Optionen:
- Tappen einer Debit-/Kreditkarte resp. Smartphone mit hinterlegter Visa oder Mastercard
- Tappen einer Fala-Karte
- Kauf eines Tickets in der Smartphone App zum sofortigen Fahrtantritt
- Entwertung eines zuvor online im Portal gekauften Fahrscheins
- Check-in in manchen Regionen (Checkout notwendig)
Und jetzt, liebe Leserinnen und Leser, wird es richtig wild: Beim Tappen einer im Portal als Indentifikator registrierten Debit- und Kreditkarte wird der Fahrkartenkauf gegen das Guthaben oder die im Portal hinterlegte Default-Karte oder auch BLIK durchgeführt. Achtung: Das gilt aktuell nur für die hinterlegte physische Bankkarte. Wer sein Smartphone hierfür nutzen will, muss zunächst die virtuelle Kartennummer mit einer App auslesen und als weiteren Indentifikator hinterlegen.
Nun mag man sich nach dem Sinn fragen, aber der ist auch recht schnell erklärt. Abgesehen von der Nutzung persönlicher Rabatte reduziert man so natürlich auch die Kosten für Kartentransaktionen. Es ist auch in anderen Ticketing-Apps eine Rückkehr zu Prepaid resp. der kostengünstigeren Abwicklung mit BLIK zu erkennen.
Tarifwirrwarr besteht weiterhin
Genau wie bei uns in Deutschland werden ÖPNV-Tarife auf lokaler oder regionaler Ebene festgelegt. Jeder Versuch, diese Strukturen zu vereinfachen scheitert meist daran, dass es stets Gewinner und Verlierer einer Tarifreform gibt. So haben sich zwar die Vertriebswege in den letzten Jahren verändert, aber abgerechnet wird so wie man es seit Jahrzehnten kennt, inklusive Zusatztickets für großes Reisegepäck in einigen Städten.
Das Einbeziehen aller in der Region tätigen Verkehrsunternehmen mit einheitlichen Tarifen, ist eine Mammut-Aufgabe vor der viele polnischen Regionen leider immer noch stehen. Da kann man schon froh sein, wenn einige regionale Bahngesellschaften inzwischen gegenseitig den größten Teil ihrer Fahrscheine auf der gleichen Strecke anerkennen.
Hinzu kommt natürlich auch der Wunsch, mit dynamischen Tarifen bspw. nach Luftlinie oder gefahrener Strecke die Nutzung gerechter zu bepreisen.
Mit Fala hat man die technologische Basis geschaffen, um Schritt für Schritt diesen Weg zu gehen.
Technologiegetriebener Ansatz vs. Nutzerfreundlichkeit
Ich bin mir sicher, dass ich die ganzen Wege und Möglichkeiten auch noch nicht zu 100% verstanden habe. Und dass, obwohl ich mich ja schon eine Weile mit solchen Systemen beschäftige und die diversen Webseiten hierzu zumindest quergelesen habe. Wie sich das für den Normalnutzer ausgehen wird, da bin ich mir noch nicht so ganz sicher.
Besonders verwirrend finde ich, dass beim Checkin lediglich die Info „Reise hat begonnen“ angezeigt wird. Keinerlei Hinweis darauf, was man gerade eigentlich „gekauft“ hat. Einen Kontrollausdruck gibt es nicht. Ist nun ein Checkout notwendig oder nicht? Und was macht man beim Umstieg (Antwort: Erneut einchecken).
Nachteilig finde ich auch, dass im Gegensatz bspw. zum niederländischen OV pay keine Möglichkeit hat, in der App eine Historie der Tickets einzusehen, wenn diese einfach nur mit direkter Abrechnung gegen das Bank-/Kreditkartenkonto bspw. über Apple Pay erfolgt sind. Das funktioniert soweit ich es sehe nur für solche Käufe, die direkt über die App oder über eine als Identifikator hinterlegte Bankkarte über das Kundenkonto erfolgt sind.
So wie ich das sehe, hat man das System komplett technologiegetrieben entwickelt. Es enthält Komponenten aus diversen anderen Regionen Polens und Europas und sollte in der Lage sein nicht nur eine EMV-basierte Lösung auf ein tradiertes Tarifsystem zu stülpen, sondern perspektivisch auf das Reisen per Checkin/Checkout in der gesamten Woiwodschaft ermöglichen. Mobile App, Webshop, Papiertickets mit QR-Code und Bankkarten: Alles soll mit der gleichen Hardware auf dem selben Backend möglich sein.
Dabei hat man m.E. den normalen Nutzer völlig vergessen. Während weiterhin sämtliche tariflichen Fallen der einzelnen lokalen Verkehrsbetriebe gelten, erhält an jetzt beim einfachen Tappen nicht einmal mehr einen vorzeigbaren Nachweis, was man gekauft hat. Die Texte, die beim Tappen am Czytnik oder Falomat angezeigt werden, sind äußerst sparsam gestaltet.
Fazit
Viele Möglichkeiten, für zukünftige Anwendungen gerüstet, aber an der UX muss wirklich noch gearbeitet werden. Dazu kommt, dass ein buntes Zusammenwürfeln unterschiedlicher technologischer Ansätze zwar gut dazu dienen kann, um zu zeigen was möglich ist, allerdings den durchschnittlichen ÖPNV-Nutzer heillos überfordern dürfte.